Ein Detektiv will nur noch schreiben…
„Wir wissen nicht, ob Herr Feuerbach diese Nacht überlebt“, sagte der Arzt, gab Clara Lund die Hand und fuhr mit leiser Stimme fort: „Tut mir leid.“ „Ich verließ nach dem allmorgendlichen Frühstück das Café Klatsch. Die ersten Strahlen der aufziehenden Frühlingssonne zwängten sich durch die noch kahlen Äste der Bäume in der Eltviller Straße und wärmten mein Gesicht…“ Clara hört auf zu lesen und legt das Manuskript beiseite. Ihre Gedanken schweifen ab.
Fälle in Wiesbaden
Frederic Feuerbach, der Detektiv aus Leidenschaft, ist vor mehr als drei Jahren nach Wiesbaden zurückgekehrt, um sich wieder als privater Ermittler zu betätigen. Über 25 Fälle hat er seitdem gelöst. Meist gemeinsam mit Nadeshda, die er bei seinem ersten Auftrag, dem „Domschatz im Denkmal“, kennenlernte.
Und Clara Lund selbst, die Lehrerin, die vor vielen Jahren von Dänemark nach Wiesbaden gekommen war? Sie hat sich bei seinem letzten Fall in ihn verliebt. Viele glückliche Stunden verbrachten sie zusammen, lebten fröhlich und ausgelassen in den Tag hinein. Wie zwei pubertierende Teenager, gesteht sich Carla ein. Eigentlich war alles gut gewesen. Eigentlich! Wenn nicht Clara Frederic mit zu einer Lesung ins Literaturhaus genommen hätte.
Wiedersehensfreude
Der berühmte dänische Bestsellerautor Henrik Nielsen wollte seinen neuen Roman vorstellen. Auf dem Spaziergang vom Rheingauviertel zur Villa Clementine eröffnete sie Feuerbach, Henrik sei ihr Cousin. „Ich freue mich riesig, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen“, strahlte sie und hakte sich bei Frederic unter. Aber der Abend verlief anders als geplant.
Der Autor nahm auf der kleinen Bühne Platz. Plötzlich wurde die Flügeltür aufgerissen und ein Mann, der eine Sturmhaube über den Kopf gezogen hatte, stürmte mit vorgehaltener Waffe in den Raum. Wie in Zeitlupe nahm sie wahr, wie Nielsen die Augen aufriss, wie der Maskierte den Finger am Abzug krümmte, wie Feuerbach reflexartig aufsprang, wie er nach vorne stürzte, wie sich im selben Augenblick, als der Detektiv gegen den Attentäter prallte, mit einem ohrenbetäubenden Knall der Schuss löste, wie das Geschoss seinen Oberkörper durchschlug und ihn zu Boden riss. Blutend brach Frederic zusammen und verlor das Bewusstsein.
Der Attentäter war danach von mutigen Besuchern der Veranstaltung überwältigt worden. Es stellte sich heraus, dass der aus Kopenhagen stammende Mann schon zweimal wegen Stalkings vorbestraft war. Zuletzt wurde er zwar als psychisch gestört, aber als nicht gewalttätig begutachtet.
Mehrfach bezeichnete er sich selbst als Dänemarks bester Krimiautor, aber niemand hatte sich für seine Texte interessiert. In seinem Wahn bildete er sich ein, wenn Nielsen tot wäre, würden die Chancen anerkannt zu werden, für ihn erheblich steigen.
Er folgte dem Autor nach Wiesbaden und beschloss, ihn zu liquidieren. Nachdem dies recherchiert war, konnten auch die beiden glimpflich verlaufenen Unfälle Henrik Nielsens in Dänemark rekonstruiert und als dilettantische Mordversuche dem Attentäter zugeschrieben werden. Das alles hatte Hauptkommissar Fischer Clara erzählt, als er gestern seinen Freund Frederic im Krankenhaus besuchte.
Als Nadeshda und ihr Freund Manuel von dem Anschlag erfuhren, waren sie sofort aus Berlin angereist.
„Was ist los, Clara?“, hört sie ihren Cousin rufen. In die Gegenwart zurückgerissen, griff sie nach dem Manuskript.
Eine Woche lang kämpften die Ärzte um Feuerbachs Leben. Eine weitere brauchte er, um einigermaßen fit zu werden, und noch viele Tage, bis er endlich die Klinik verlassen durfte. Die gesamte Zeit über hatte sich Clara um ihn gekümmert und war nie von seiner Seite gewichen.
Vom Krankenhaus aus waren sie direkt in Claras Wohnung in Nordenstadt gefahren. Dort hatte ihn Henrik Nielsen erwartet, der extra erneut aus Kopenhagen angereist war, um dem Lebensretter zu danken.
„Ohne dich wäre ich mausetot“, hatte ihn der Autor begrüßt und heftig umarmt. Da Henriks Vorfahren aus Hessen stammten, konnte er einigermaßen Deutsch sprechen, wenn auch holprig.
Es war eine lange und intensive Nacht geworden. Es gab viel zu erzählen. Als Clara um Mitternacht das Handtuch geworfen und sich schlafen gelegt hatte, waren die beiden Männer längst noch nicht bereit, ihre Unterhaltung abzubrechen. Besonders Frederic redete ohne Unterlass, sprach von seiner Todesangst, von dem Plan, einfach alles hinzuwerfen, und erzählte ausführlich von den Fällen der vergangenen Jahre.
Als Clara am nächsten Tag aufstand, zugegebener Maßen ziemlich spät, war sie verschlafen durch ihre Wohnung geschlichen. Im Arbeitszimmer hatte Frederic gesessen und auf ihrem PC herumgetippt. „Was ist?“, fragte sie und umarmte ihn von hinten. Feuerbach schreckte hoch. „Ach…ja…äh…, ich schreibe.“ „Was?“ „Krimis.“ „Nee, oder?“
„Doch. Henrik hat gesagt, ich müsste meine Erlebnisse unbedingt zu Papier bringen, und zwar nicht als Biografie, sondern als spannende Geschichten. Außerdem wäre das eine gute Möglichkeit, das Trauma aus dem Literaturhaus zu verarbeiten. Denn mit der Detektivspielerei ist es vorbei. So oder so.“ „Kannst du das denn?“ „Keine Ahnung. Henrik hat gesagt, er hilft mir, mit Tipps und so. Außerdem…“ Clara hebt das Manuskript hoch, liest aber nicht weiter.
Fiktionaler Detektiv
Ihr gegenüber sitzen Nadeshda, Manuel, Kommissar Fischer und Feuerbach. Sie geht zu Frederic hinüber, überreicht ihm die Blätter und sagt: „Jetzt kannst du es ja verkünden.“ „Liebe Freunde, geliebte Clara. Ich war heute Morgen auf der Frankfurter Buchmesse. Henrik hatte mir einen Termin mit der Verlegerin Elka Vrowenstein vom Wiesbadener Brücken Verlag vermittelt. Und…“, Frederic macht eine Pause und strahlt in die Runde, „…sie wird meine Geschichten veröffentlichen. Ab jetzt bin ich nur noch ein fiktionaler Detektiv.“
Wiesbadener Kurier Stadtausgabe vom 12.10.2015, Seite 20